Ich sitze mit meinem 8jährigen autistischen Sohn in der U-Bahn,
d.h. nur ich, er hat seinen Lieblingsplatz vorne am Fenster gefunden – für ihn ein Glücksgriff, diese fahrerlosen Züge mit Panoramablick, er hüpft und rennt vorne auf und ab.
Zum Glück sind nur wenig Fahrgäste da, aber ausgerechnet ein beschäftigt und nervös wirkender Geschäftsmann sitzt mit dem Rücken zu ihm und kriegt ab und zu einen leichten Stupser ab.
Mißbilligende Blicke, Grimassen… nach einigen Minuten biete ich an, mit ihm Platz zu tauschen – er ignoriert mich. Na gut, dafür steigen mehr Leute ein, ältere Damen mit kritischen Blicken, denen Simon beim Austeigen auf die Füsse tritt. Ich kann ihre Gedanken förmlich ablesen und spüren–unerzogenes Kind, also wirklich, …
Dabei ist mein Sohn heute nahezu vorbildlich – wirft sich nicht auf den Boden, schreit nicht rum, leckt nicht mal die Scheibe ab. Auf dem Heimweg ist er glücklich mit seiner Nudelbox, ich lehne mich zurück und versuche zu entspannen. Keine Chance, ein kleines Nudelstück fällt ihm runter und gleich beginnt die Sitznachbarin zu meckern:
„Also wirklich, kann der nicht essen, kein Wunder dass die Bahn so dreckig ist….“
Mein Sohn schaut mich stumm und erwartungsvoll an, wie ich reagiere, ihm beistehe.
„Aber heute isst er wirklich ordentlich und im Übrigen – geht sie das überhaupt was an?
Haben Sie vielleicht auchg noch andere echte Probleme – also Krebs, arbeitslos oder so was?“
All das sag ich später in Gedanken zu ihr, als ich frustriert mit ihm aussteige. Ich wünsche mir mehr Gelassenheit, Schlagfertigkeit – sich nicht entschuldigen für sein Kind, sondern ihm den Rücken stärken und souverän sachlich antworten.
Meistens sieht man so Leute ja auch nie wieder, also was solls. Ein Lichtblick dagegen im Asia-Laden, obwohl wir erst einmal dort waren, empfängt uns die Verkäuferin mit einem breiten Lächeln und spricht ihren jungen Kunden an:
„Ahh, wieder Nudeln ‘eute?“ Auch da schaut sich mein Sohn um, berührt die Vitrine, aber das stört hier keinen. Sie bietet ihm freundlich Frühlingsrollen zum Probieren an, worauf er sich zu meiner Überraschung einläßt und dann geduldig auf sein Lieblingsessen wartet. Zum Abschied winkt sie lachend und wünscht uns einen schönen Abend. Oder der Döner Imbiß bei uns im Stadtteil – der Besitzer winkt uns immer zu, erkundigt sich nach ihm und wehrt gelassen ab, wenn ich versuche, Simons Forscherdrang zu begrenzen: „Ach was, das ist doch ein Kind, lassen Sie doch!“
Das tut gut.
Abends schreibt Simon per FC auf meine Frage, wie er die Situation in der U-Bahn fand:
ICH FINDE FEINDE IN DER UBAHN.
Und ich frag mich, wer und wo eigentlich das Problem ist – mein autistisches Kind, ich als emotional-gestresste Mutter oder die verschiedenen Menschen um uns herum?
Ute Haller